Die Fliege im Bild – schönster Künstlerscherz
Das derzeitige Titelbild der Verlagshomepage zeigt zwei Hasen im Grün. Susanne Haun hat die Hasen in Tusche gezeichnet und lediglich das sie umgebende Grün aus Teilen von Thomas Lemnitzers Fotografien zusammengefügt und nochmals überzeichnet. Sie hat dafür vorwiegend solche Bereiche der Fotografien gewählt, die wegen ihrer Unschärfe malerisch und diffus wirken. Die einzige Ausnahme ist das Blattfragment in der rechten oberen Bildecke. Hier wurde die Fotografie einer Fliege verwendet, die so scharf ist, dass wir nicht nur den Schatten des Insekts sondern sogar einzelne Poren des Blattes, die Lichtreflexe auf den Flügeln der Fliege und Haare auf ihrem Hinterleib erkennen können. Der Effekt ist, dass die Fliege auf dem Bild täuschend echt wirkt und den Betrachter in Versuchung führen kann, sie für lebendig zu halten.
Ich nehme dies zum Anlass, im weiten Feld der Künstleranekdoten zu stöbern und euch die besonders schöne Rolle, die die Fliege darin spielt, vorzustellen.
Beide folgenden Texte sind dem Reader einer Vorlesung entnommen, die Professor Wolf-Dietrich Löhr im Wintersemester 2012/13 an der Freien Universität Berlin las. Wolf-Dietrich Löhr ist ebenfalls Urheber der hier zitierten deutschen Übersetzungen. Die Vorlesung war nicht nur lehrreich sondern auch ausgesprochen unterhaltend, weshalb der Reader einen Umzug und den Fortgang des Lebens überhaupt, im Bücherregal überlebt hat.
Der erste Text entstammt einer Biografie des bekannten Bildhauers und Architekten Gianlorenzo Bernini (1598 – 1680), verfasst von Domenico Bernini dem Sohn desselben.
Im Vergleich mit der Kunst wird die Fliege in dieser Erzählung zum Träger eines geschickt verpackten Gotteslobes.
Domenico Bernini, Vita del Cavalier Gio. Lorenzo Bernino, 1713, Cap. 2:
»Et una volta fatto avvenne certamente degno per ogni capo di racconto.
Terminata la mensa, furono presentati al Pontefice [Alessandro VII]
diversi Ritratti in Pittura, e in Lapis lavorati da più insigni Professori di
Roma in rappresentazione di lui, chì in profilo, chì di faccia, chì a sedere,
chì in piedi. Eranolo soliti di assistere, e far corona al Principe in
quell’hora i maggiori Virtuosi di Roma, de’ cui discorsi egli si pasceva in
divertimento non men nobile, che dilettevole delle sue cure. Frà essi
sempre vi erano il Cardinal Sforza Pallavicino, e’l nostro Cavalier
Bernino. Hor’alla comparsa de’ sopranominati Ritratti ciascun dicendo la
sua opinione di qual più simile paresse all’Originale, che era quivi
presente, sopravenne a caso una Mosca sù la Tavola del Papa. E in
appena vederla, Questa, disse il Bernino, è più simile al Papa nel più
forte, e nel più bello, che ogni qualunque muto Ritratto di virtuosissimo
Pittore. Alessandro, e’l Pallavicino, che penetrarono subito il profondo
senso del Cavaliere, applaudirono incontanente al suo detto e nobilissimi
furono gl’insegnamenti di Filosofia, che in lungo discorso quindi dedusse
il Cardinale, dimostrando la uniformità del moto, l’attitudine delle parti,
la proporzione delle operazioni, e la sensibilità degli organi esterni, &
interni, co’ quali negli occulti principii molto più si assomigliava quel
vivente Animaluccio a quel vivo Monarca, che ogni qualunque insensata
tela di ben disposti, ma morti colori. Il che fu sommamente gradito e
applaudito dal Pontefice, la cui mente più gioiva in apprendere il vero,
che in dilettarsi del vago.«
Domenico Bernini, Lebensbeschreibung des Ritters Gio. Lorenzo
Bernini, 1713, Kap. 2:
»Und einmal geschah etwas, das in jeder Hinsicht wert ist, erzählt zu
werden. Nachdem das Mahl [Alexanders VII, seines Hofes und seiner
Gäste] beendet war, wurden dem Papst verschiedene sowohl gemalte als
auch gezeichnete Bildnisse präsentiert, die von den berühmtesten
Vertretern der Malkunst in Rom ausgeführt worden waren und ihn teils
im Profil teils frontal, teils sitzend und teils stehend darstellen sollten.
Die größten virtuosi Roms pflegten damals zu solchen Stunden den
Papst zu begleiten und ihn gleich einem Hofstaat zu umgeben, und er
weidete sich in nicht weniger edler als vergnüglicher Ablenkung von
seinen Sorgen an ihren Gesprächen. Unter ihnen waren immer auch der
Kardinal Sforza Pallavicino und unser Ritter Bernino. Als nun beim
Erscheinen der genannten Bildnisse jeder seine Meinung sagte, welches
dem Urbild, das ja dort zugegen war, am ähnlichsten erscheine, kam
durch Zufall eine Fliege auf die Tafel des Papstes. Und kaum, dass er sie
gesehen hatte, sagte Bernino Diese ist, indem sie stärker und schöner ist,
dem Papst ähnlicher als jedes andere stumme Bildnis eines trefflichsten
Malers. Alexander und Pallavicino, die den tiefen Sinn [der Worte] des
Ritters [Bernini] sogleich durchdrangen, applaudierten umgehend seinem
Ausspruch und die Lehrstücke der Philosophie, die der Kardinal in einer
langen Rede daraus ableitete, waren von erhabenster Art und bewiesen
die Einheit der Bewegung, die Stellung der Teile zueinander, die
Verhältnismäßigkeit der Handlungen und die Empfindsamkeit der
äußeren wie inneren Organe, durch welche jenes lebendige Tierlein in
seinen verborgenen Prinzipien dem lebenden Monarchen viel mehr
ähnelte, als jede sinnenlose Leinwand aus gut verteilten, aber toten
Farben. Dies alles wurde aufs Höchste vom Papst gebilligt und gelobt,
dessen Geist sich mehr daran erfreute, die Wahrheit zu lernen, als sich am
Schönen zu vergnügen.«
(Löhr, Wolf-Dietrich: Begriffe in Bewegung. Künstleranekdoten als erzählte Kunsttheorie 1300-1700. Reader zur Vorlesung. Berlin, Freie Universität, Kunsthistorisches Institut, WiSe 2012/13, S. 16f.)
Die zweite Anekdote wurde von dem Florentiner Maler, Architekten und Autor Giorgio Vasari (1511 – 1574) in dessen Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani (in einer wunderbaren kommentierten Übersetzung erschienen im Verlag Klaus Wagenbach: Alessandro Nova (Hrsg.): Giorgio Vasari, Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten. Deutsche Gesamtausgabe in neuer Übersetzung von Victoria Lorini, 45 Bände + Supplementband. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004–2015.) überliefert. Sie beschreibt den Maler Giotto di Bondone (1267 – 1337) als Meister seiner Kunst, der durch die Perfektion seiner Arbeit selbst in jungen Jahren schon das Auge seines Meisters täuschen konnte. Bei Vasari ist diese Anekdote in einem größeren Rahmen programmatisch zu verstehen, der mit den Viten auch eine kunstgeschichtliche Entwicklung aufzeichnet, als deren absoluten Höhepunkt er Michelangelo Buonarotti betrachtet. Giotto ist in dieser Erzählung der Anfang, der die ”alte Zeit” überwindet und jene (kunst-)historische Epoche einleitet, die wir heute Renaissance nennen. Löhr sieht ihn innerhalb der Erzählung Vasaris in der „Rolle des prophetischen Vorläufers“.
Die Fliege wird zum Symbol der künstlerisch-handwerklichen Fähigkeit Giottos und (mit den Augen Vasaris) auch der Überlegenheit der fortschrittlicheren neuen Kunst.
Giorgio Vasari, Le Vite …, [1586,] Vita di Giotto:
»Dicesi che stando Giotto ancor giovinetto con Cimabue, dipinse una
volta in sul naso d’una figura che esso Cimabue avea fatta una mosca
tanto naturale, che tornando il maestro per seguitare il lavoro, si rimise
più d’una volta a cacciarla con la mano pensando che fusse vera, prima
che s’accorgesse dell’errore. Potrei molte altre burle fatte da Giotto e
molte argute risposte raccontare, ma voglio che queste, le quali sono di
cose pertinenti all’arte, mi basti avere detto in questo luogo, rimettendo il
resto al detto Franco et altri.«
Giorgio Vasari, Lebensbeschreibungen …, [1568,] Leben des Giotto:
»Man sagt, dass Giotto als er noch jung war und bei Cimabue [in der
Werkstatt] war, einmal auf die Nase einer Figur jenes Cimabue derart
natürlich eine Fliege gemalt hatte, dass der Meister, als er zurückkam, um
die Arbeit fortzuführen, mehr als einmal ansetzte, um sie mit der Hand zu
verscheuchen, da er sie für echt hielt, bis er seinen Irrtum einsah. Ich
könnte noch viele weitere Scherze von Giotto und viele scharfsinnige
Antworten erzählen, aber es sollen diese genügen, welche von Dingen
handeln, die mit der Kunst zu tun haben, das übrige sei Franco
[Sacchetti] und den anderen überlassen.«
(Löhr, Wolf-Dietrich: Begriffe in Bewegung. Künstleranekdoten als erzählte Kunsttheorie 1300-1700. Reader zur Vorlesung. Berlin, Freie Universität, Kunsthistorisches Institut, WiSe 2012/13, S. 10f.)
Allen, die über solche und andere Künstlerscherze schmunzeln können, kann ich im Übrigen nur empfehlen, ins Museum zu gehen, zum Beispiel in die Berliner Gemäldegalerie! Dort findet ihr zahlreich solche gemalten Scherze und Kunstgriffe, wenn ihr nur genau hinschaut! Es erwarten euch verschiedene Insekten, Früchte, die aus dem Bild quellen wollen und Füße, die scheinbar aus dem Rahmen treten. Sie sollen uns die Kunstfertigkeit des Künstlers vor Augen führen, zeigen aber auch ihre Grenzen. Sie dienen uns – den Betrachtern – als Brücken und Einstiege in die gemalte Erzählung und laden uns ein, über die Relation von unserer erlebten Realität und der Bildrealität nachzusinnen! Für den literarischen Genuss kann ich außerdem die im Bild gezeigten Publikationen als Sammlungen erbaulicher Bonbons für Zwischendurch empfehlen…
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