Sehen lernen

Sehen lernen

Bilder umgeben uns im Alltag, wir sehen sie in Form von Abbildungen in Lehrbüchern, Fotografien aus der Familie, Werbeplakaten, in Zeitungen, Benutzeroberflächen von diversen Bildschirmen von Tablet bis Fahrkartenautomat, überall. Der Umgang und die Einordnung von Bildern und damit verbundene visuelle Kompetenzen sind deshalb enorm wichtig, gerade auch für Kinder.

Bereits im Alter von wenigen Monaten können Babys bekannte Personen oder Objekte (wieder)erkennen. Das sind zu Beginn Gegenstände aus dem Alltag, die die Kinder bereits kennen. Hier bildet sich die Fähigkeit, ein dreidimensionales Objekt auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren und wiederzuerkennen, aus. Die Kinder müssen die wesentlichen von unwesentlichen Eigenschaften unterscheiden und die prototypischen Merkmale des Objektes erfassen. Im Alltag kann dies bei Straßenschildern oder Farben passieren. Diese Prozesse laufen unbewusst und wahnsinnig schnell ab und ermöglichen so eine schnelle Einordnung der Wirklichkeit und eine Verknüpfung mit bereits Bekanntem und gemachten Erfahrungen.

Bilderbücher spielen bei der Ausbildung der dafür benötigten visuellen Kompetenzen eine große Rolle, denn hier erfahren Kinder, dass man die Welt abbilden kann, dass Bilder etwas erzählen können und auch, dass sie Spaß machen. Von der reinen Abbildung der Realität ermöglichen sie Kindern im Prozess dann auch einen Blick in ihr Inneres, machen Träume und Gefühle sichtbar.

Mit der Zeit kommt der Umgang mit narrativen Bildfolgen hinzu. Dabei müssen alle relevanten Informationen in eine temporale und logische Ereignisabfolge gebettet werden. Die zeitlichen, handlungsbezogenen und räumlichen Auslassungen zwischen den Bildern müssen durch interpretative Vorstellungsarbeit ergänzt werden, um das Gesehene verstehen zu können.

Bilder werden nach und nach nicht mehr nur als eine Verdopplung der Realität verstanden, sondern als eine mögliche Abbildung dieser, die es einzuordnen und zu interpretieren gilt. Gerade durch mehrdeutige, künstlerisch anspruchsvollere oder multiperspektivische Narrationsformen werden Imaginationsvermögen, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Empathiefähigkeit ausgebildet, die letztendlich einen kritischen und selbstbestimmten Umgang mit Bildern ermöglichen.

Zudem lädt das Betrachten von Bilderbüchern, besonders wenn es gemeinsam geschieht, dazu ein, über das Gesehene zu reden, Gedanken und Gefühlen Worte zu verleihen und Verständnis für Erzählungen zu wecken, lange bevor das über die Schrift möglich ist und auch weit darüber hinaus. Bilderbücher fördern also nicht nur visuelle Kompetenzen, sondern auch Sprachentwicklung und soziale Kompetenzen.

Unser neuestes Bilderbuch ŞEKİL OYUNU – FORMSPIEL von Fulya Gezer -Bachmann ist in diesem Zusammenhang besonders geeignet, um erste Formen kennenzulernen und mit diesen zu spielen. Auf bunten Seiten, die viel Platz zum Mitgestalten lassen, können Kinder mit den Grundformen Dreieck, Kreis, Viereck immer wieder Figuren entdecken, die sich, mal oben, mal unten, vorn und hinten, auf den Seiten tummeln und so zu Perspektivwechseln und gemeinsamen Gespräch einladen.

Beitragsautorin: Katharina Schulze-Bergner

Quellen

Dichtl, Eva-Maria; Vorst, Claudia: Das zeitgenössische Bilderbuch. Chancen literarischen, bildlichen und medialen Lernens, 2013, unter: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/2270/., letzter Zugriff: 07.02.2023.

Hering, Jochen: Kinder brauchen Bilderbücher. Erzählförderung in Kita und Grundschule, Klett Verlag, 2016.

Koch, Thomas; Schwerd, Flavia: Visuelle Kompetenz lernen und lehren, März 2010, unter: http://flaviableuel.com/wp-content/uploads/2010/03/Visuelle_Kompetenz_Koch_Schwerd_2007.pdf, letzter Zugriff: 07.02.2023.

Krichel, Anne: Visual Literacy. In: KinderundJugendmedien.de, 19.06.2019., unter: https://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/fachdidaktik/2797-visual-literacy., letzter Zugriff: 07.02.2023.

Markt-Huter, Andreas: Bilderbücher und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Kindern – Teil 2, für den Tiroler Bildungsservice/ Bildungsdirektion Lesen, 29.05.2019, unter: https://lesen.tibs.at/node/5251., letzter Zugriff: 07.02.2023.

Mikos, Lothar: Ästhetische Erfahrung und visuelle Kompetenz: Zur Erweiterung der diskursiven Medienkompetenz um präsentative Elemente, 17.3.2000, unter:
https://www.mediamanual.at/mediamanual/themen/pdf/kompetenz/27_mikos.pdf, letzter Zugriff: 07.02.2023.

Worte wie Bilder haben die Kraft, Freiheiten und Möglichkeiten zu schaffen, aber auch Denkverbote und Grenzen zu etablieren.

Wie oft treffen wir auf Frauen, die nur mit Schamesröte im Gesicht – wenn überhaupt – über ihre Geschlechtsteile sprechen können? Vielleicht ist es an der Zeit unseren Kindern die Worte zu geben, die es ihnen später ermöglichen frei, selbstbewusst und selbstbestimmt über ihren Körper zu sprechen und zu verfügen. Spätestens in der Pubertät merken Mädchen und Jungen nämlich, dass Worte wie „Mumu“ und „da unten“ oder auch „Pillermann“ nicht geeignet sind, sich aufrichtig, echt und respektvoll zu unterhalten. Dabei sind solche Gespräche gerade in dieser Zeit so wichtig und es ist schade, wenn sie an fehlenden Worten scheitern.

Geben wir unseren Kindern doch von Anfang an die Worte mit, die sie später stärken! Statt „Mumu“, „unten rum“ und „die Scham“ einfach mal Vulva, Vagina und Klitoris benennen und so Klarheit und Selbstbewusstsein schaffen!

Hier noch ein Link zu einer popkulturellen Auseinandersetzung mit den Themen Bodyshaming und Geschlechtergleichberechtigung von Giulia Becker.

Beitragsautorin: Nina A. Schuchardt